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Schulisches Lernen muss stärker anwendungsorientiert sein

Praktische Umsetzung der Erkenntnisse aus der PISA-Studie hat höchste Priorität

Präsidentin der Kultusministerkonferenz: Die empirisch erhobenen Fakten müssen jetzt auch ernst genommen werden

- Ergebnisse der OECD-Studie PISA zeigen zentrale Handlungsfelder auf -

Berlin. Eine Diskussion um die Unterrichtsinhalte schulischer Bildung wird die unmittelbare Konsequenz der Ergebnisse der PISA-Studie der OECD sein, die am 04.Dezember in Berlin vorgestellt wurde. Erstmals liegen nun empirische Erhebungen auf einer breiten Basis vor, die eine sachliche Diskussion um Unterrichtsinhalte ermöglichen. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, die aus PISA gezogen werden muss, ist die klare Ausrichtung des Unterrichts weg von theoretischer, lebensferner Bildung hin zu einer handlungs- und anwendungsorientierten Kompetenz der Schülerinnen und Schüler in Deutschland.


Am 04.Dezember wurden weltweit die ersten Ergebnisse der bisher umfassendsten und weitreichendsten internationalen Schulleistungsstudie veröffentlicht.

Die Frage nach der Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern in Deutschland ist seit einiger Zeit Gegenstand der öffentlichen Debatte. Mit dem Konstanzer Beschluss von 1997 zur Qualitätssicherung und der erstmaligen umfassenden Beteiligung an einer internationalen Vergleichsuntersuchung hat die Kultusministerkonferenz diese Frage aktiv aufgegriffen mit dem erklärten Ziel, gesicherte Befunde über Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen in den zentralen Kompetenzbereichen zu erhalten. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan erklärte: "Der Konstanzer Beschluss war eine der bedeutsamsten Entscheidungen der Kultusministerkonferenz überhaupt." PISA ist dabei Teil ei-ner längerfristig und breit angelegten Strategie der Qualitätssicherung. "Die Fakten und Erkenntnisse, die in der PISA-Studie dokumentiert sind, müssen jetzt ernst genommen und zügig umgesetzt werden", sagte Schavan bei der zentralen Veranstaltung der Präsentation der PISA-Ergebnisse für Deutschland in Berlin. Weitere Teilnehmer waren Senator Willi Lemke, Vizepräsident der Kultusministerkonferenz, Hermann Lange, Vorsitzender der Amtschefskommission "Qualitätssicherung in Schulen", Erich Thies, Generalsekretär der Kultusministerkonferenz, und Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und federführend bei der Durchführung der nationalen Untersuchung.

"Mit PISA verfügen wir nun über empirische Befunde, die eine Versachlichung der Diskussion geradezu verlangen", so die Präsidentin der Kultusministerkonferenz. "Die Frage nach dem Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler geht alle Länder gleichermaßen an. Daher wird die Klärung von Zusammenhängen und die Möglichkeiten der Reaktion auf manifeste Probleme in gemeinsamer Anstrengung geschehen. Die inhaltliche Frage ist viel zu lange vernachlässigt worden. Wir müssen die Ergebnisse von PISA nutzen, die bildungspolitische Diskussion endlich genau darauf zu lenken, wo die eigentlichen Probleme liegen, vor allem auf den Unterricht. Eine stärker ergebnisorientierte Lern- und Unterrichtskultur muss Ziel aller Maßnahmen sein; lediglich symbolische Reaktionen helfen uns nicht weiter. Seit TIMSS hat sich in den Ländern in dieser Hinsicht eine ganze Menge bewegt, aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Probleme nicht von heute auf morgen gelöst werden können."

Praktische Umsetzung einer ergebnisorientierten Lernkultur


An der bisher umfassendsten und differenziertesten Vergleichsuntersuchung nahmen im Frühsommer 2000 weltweit rund 180.000 15-jährige Schülerinnen und Schüler aus 32 Staaten teil, darunter mehr als 5000 Schülerinnen und Schüler aus 219 Schulen aller Schularten in der Bundesrepublik Deutschland. Im Rahmen einer nationalen Ergänzungsstudie ("PISA-E") wurden in der Bundesrepublik Deutschland weitere rund 50.000 Schülerinnen und Schüler aus 1.246 Schulen in die Untersuchung einbezogen. Diese Ergänzungsstudie, die im nächsten Jahr vorgestellt wird, lässt statistisch abgesicherte Aussagen über die Ergebnisse in den einzelnen Ländern und Schulformen zu. Bei PISA 2000 wurden zentrale Kompetenzbereiche untersucht: Den Schwerpunkt bildete das Leseverständnis, Nebenkomponenten waren mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung. Gleichzeitig wurden die biografischen Hintergründe der Schülerinnen und Schüler sowie die Familien- und Lebensverhältnisse, unter denen die Jugendlichen auf-wachsen, einbezogen.

Professor Dr. Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, stellte die zentralen übergreifenden Befunde aus deutscher Sicht vor:

  • In allen untersuchten Kompetenzbereichen (Lesekompetenz, mathematische Kompetenz, naturwissenschaftliche Kompetenz) liegen die mittleren Ergebnisse für die 15-Jährigen in Deutschland deutlich unter dem OECD-Durchschnitt.
  • Die Streuung der Leistungen ist in Deutschland breiter als in den meisten OECD-Staaten, im Bereich Lesekompetenz sogar am größten überhaupt.
  • Der Anteil derjenigen, die nur das unterste, elementare Kompetenzniveau erreichen oder sogar noch darunter bleiben, ist in Deutschland größer als in vielen anderen OECD-Staaten. Dies betrifft insbesondere die Lesekompetenz. Deutschland liegt hier auf dem fünftletzten Platz.
  • Im oberen Leistungsbereich entsprechen die durchschnittlichen Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler weitgehend denen in anderen Staaten. Allerdings sind keine herausragenden Erfolge in der Förderung von Spitzenleistungen nachweisbar.
  • Der internationale Vergleich zeigt, dass die Sicherung eines insgesamt hohen Leistungsniveaus und die Verringerung der Leistungsabstände unter angemes-sener Förderung aller Leistungsgruppen miteinander vereinbare Ziele sind.
  • Schwächen zeigen sich in allen untersuchten Bereichen insbesondere bei Aufgaben, die ein qualitatives Verständnis der Sachverhalte verlangen und nicht im Rückgriff auf reproduzierbares Routinewissen gelöst werden können. Die Anwendungsorientierung kommt hier insgesamt zu kurz.
  • In Deutschland ist der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenz-Erwerb in allen drei untersuchten Bereichen statistisch besonders eng. Im Bereich der Lesekompetenz ist er im Vergleich zu allen anderen OECD-Staaten am engsten.
  • Es gibt hohe Überlappungen in der Leistungsverteilung zwischen den einzelnen Schulformen.
  • Die Verteilung der 15-Jährigen in Deutschland auf unterschiedliche Jahrgangsstufen ist ungewöhnlich breit. Dabei ist im Verhältnis zu den anderen Staaten die Zahl Schülerinnen und Schüler, die sich erst auf der neunten Jahrgangsstufe befinden, sehr hoch. Ursachen hierfür sind auch die intensiv genutzte Praxis der Zurückstellung vom Schulbesuch der Grundschule und der Klassenwiederholung, von der die meisten anderen OECD-Staaten nur zurückhaltenden Gebrauch machen.
  • Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund - insbesondere solchen Familien, die als tägliche Umgangssprache eine andere Sprache als Deutsch verwenden - bleiben im Durchschnitt deutlich unter den Kompetenzniveaus, die 15-Jährige erreichen, deren Eltern beide in Deutschland geboren wurden. Das gilt nicht nur für die Lesekompetenz, sondern - teilweise verstärkt - auch für die anderen Lernbereiche. Die Förderung von Schülerinnen und Schülern aus Familien vergleichbarer Zuwanderungsgruppen gelingt in anderen Ländern teilweise besser als in Deutschland.
  • Die niedrigeren Leistungsergebnisse von Jugendlichen aus Migrationsfamilien drücken sich auch in einer unterproportionalen Beteiligung an Bildungsgängen aus, die zu höheren Schulabschlüssen führen. Die entscheidende Hürde beim Übergang in diese Bildungsgänge ist dabei das Fehlen einer ausreichenden Lesekompetenz.
  • Jungen erzielen im Lesen schwächere Leistungen als Mädchen. Diese Differenz ist größer als der Leistungsvorsprung der Jungen in der Mathematik. Dieser Befund zeigt sich in fast allen an der Untersuchung beteiligten Länder, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Die relative Schwäche der Jungen im Lesen scheint vor allem darauf zurückzuführen zu sein, dass sie weniger Interesse und Zeit für das Lesen aufbringen als Mädchen.
  • Computer werden in deutschen Schulen deutlich seltener genutzt als in allen anderen Industrienationen. Die deutschen Jugendlichen haben zwar ein großes Interesse an Computern, aber vergleichsweise wenig Erfahrungen. Ihre Erfahrungen konzentrieren sich noch stärker als in anderen Ländern auf Computerspiele. Die Schulen - vor allem die Gymnasien - nutzen ihre Chance zu wenig, geschlechtsspezifische Interessen- und Erfahrungsunterschiede auszugleichen und Jugendliche auch an moderne Arbeits- und Lernsoftware heranzuführen.

 
"Diese Befunde von PISA geben uns eindeutige Hinweise, worauf wir unsere gemeinsamen Anstrengungen jetzt richten müssen," erklärte der Vizepräsident der Kultusministerkonferenz, Willi Lemke. "Vorrangig müssen wir die bisherigen Fördermaßnahmen und Lernstrategien für Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren Elternhäusern überprüfen und verbessern. Dies betrifft insbesondere die Lesekompetenz junger Menschen, die - wie PISA unterstreicht - der Schlüssel für erfolgreiche Bildungsprozesse in allen Lernbereichen innerhalb und außerhalb der Schulen ist. Erforderlich ist dabei eine generelle Stärkung der professionellen Verantwortung der Schule von der Grundschule an und ein intensiveres Zusam-menwirken von Schule und Elternhaus. Die Lernzeiten in der Schule müssen intensiver genutzt und um ergänzende Angebote erweitert werden. Darüber hinaus müssen auch besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler verstärkt gefördert werden.

"Die Komplexität und das Gewicht der Befunde schließen allerdings aus, bereits jetzt ein abgeschlossenes Handlungsprogramm vorzulegen.

Schon jetzt sind folgende zentrale Handlungsfelder zu nennen:

  • Förderung lernschwacher Schülerinnen und Schüler: d.h. verstärkte An-strengung zur Förderung von Schülerinnen und Schülern im unteren Leistungsbereich, insbesondere auch durch Entwicklung neuer Konzepte für das Lernen in Hauptschulen und Förderschulen;
  • Qualitätssicherung: d.h. die Verbesserung der unterrichtsbezogenen Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung auf allen Ebenen des Schulsystems als fortlaufender Prozess; die Formulierung anspruchsvoller, aber realistischer und verbindlicher Lernziele vor allem in den zentralen Kompetenzbereichen und die Sicherung von Mindeststandards;
  • Erkennen "schwacher Leser": d.h. gezielte Qualifizierung der Lehrkräfte, insbesondere durch Entwicklung ihrer diagnostischen Kompetenz zum rechtzeitigen Erkennen "schwacher Leser" als Basis für gezielte Förderprogramme, die kontinuierlichen Diagnose der Entwicklung von Lesekompetenz als Voraussetzung für erfolgreiches schulisches Lernen in allen Schulfächern sowie zusätzliche Angebote bei Entwicklungsdefiziten;
  • Schulzeitregelungen: d.h. die Überprüfung der Schullaufbahnregelungen im Hinblick auf die Fördereffekte und die optimale Nutzung von Lernzeit, insbesondere hinsichtlich Einschulungszeitpunkt, Klassenwiederholung, Übergangsentscheidung, Förderung besonders leistungsstarker Schülerinnen und Schüler;
  • Nutzung der Lernzeiten: d.h. intensivere Nutzung des Zeitfensters und ergänzende Lernangebote, insbesondere im vorschulischen Bereich und in der Grundschule, u.a. durch Entwicklung und Verbesserung von Programmen zur Förderung des sprachlichen Verständnisses und der Kommunikationsfähigkeit bereits in der vorschulischen Erziehung und darüber hinaus;
  • Personal- und Organisationsentwicklung: d.h. die Verbesserung der Professionalität der Lehrertätigkeit im Rahmen eines umfassend angelegten Programms der Personal- und Organisationsentwicklung, das eine praxisnahe Erstausbildung ebenso einschließt wie die Verpflichtung zur Weiterbildung und ihre Durchsetzung im Rahmen der Personal- und Füh-rungsverantwortung auf allen Ebenen des Systems. Dabei müssen im Bereich der Weiterbildung gezielte Angebote zur Verbesserung des Unterrichts entwickelt werden. 

Das Erreichen dieser Ziele hänge, betonte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, in erster Linien davon ab, inwieweit es gelinge, eine "neue Lernkultur" zu schaffen. Die Wertschätzung des Lernens und die Verantwortlichkeit für Bildung seien neu zu bestimmen. Dies erfordere ein umfassendes und gemeinschaftliches Handeln vieler Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen des Bildungssystems. Es bedürfe sowohl einer Intensivierung der Lehr-Lern-Forschung und der fachdidaktischen Forschung in den Hochschulen als Grundlage der Qualifizierung von Lehrkräften als auch einer Qualifizierung des Handelns der einzelnen Schulen wie der Schulverwaltungen und der Schulaufsicht und die Nutzung und Förderung der Potenziale der Elternhäuser. Eine derart umfassend anzulegende Strategie lasse sich nur gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern entwickeln. Sie seien in den notwendigen Entwicklungsprozess intensiv einzubeziehen und in ihrer Expertise anzusprechen.

"Um die dafür notwendige breite Rezeption der Untersuchungsergebnisse zu fördern und Möglichkeiten einer intensiven Auseinandersetzung mit ihnen zu schaffen, hat die Kultusministerkonferenz frühzeitig", so der Vorsitzende der Amtschefskommission "Qualitätssicherung in Schulen", Staatsrat Dr. h.c. Hermann Lange, "eine umfassende Strategie für die Auswertung und Diskussion der Ergebnisse der PISA-Untersuchungen vereinbart. So sind u.a. eine Reihe von Diskussionsforen vorgesehen, die eine sorgfältige Analyse der Befunde und eine breite bildungspolitische Diskussion unter möglichst vielen Beteiligten ermöglichen sollen."
 
Eine Zusammenfassung der zentralen Befunde finden Sie auf der Internetseite des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung unter

www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/

Eine ausführliche Darstellung der Testkonzeption von PISA und detaillierte Auswertung der Ergebnisse in den einzelnen Kompetenzbereichen erscheint in den nächsten Tagen im Buchhandel:

Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.),
PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, 548 S.,
Leverkusen: Verlag Leske + Budrich 2001
ISBN 3-8100-3344-8

Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die im Auftrag der Kultusministerkonferenz erstellte grundlegende Abhandlung über Möglichkeiten und Grenzen groß angelegter Vergleichsstudien von Prof. Dr. Dr. h.c. Franz E. Weinert:

Franz E. Weinert (Hrsg.),
Leistungsmessungen in Schulen, 398 S.,
Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2001
ISBN 3-407-25243-9

Expertisen zum Erwerb von notwendigen Basisqualifikationen in der gymnasialen Oberstufe in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch bietet der jüngst erschienene Band von Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth, Humboldt-Universität Berlin:

Kerncurriculum Oberstufe: Mathematik - Deutsch - Englisch. Expertisen - im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister herausgegeben von Heinz-Elmar Tenorth,
Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2001, 288 S.,
ISBN 3-407-25239-0